Als erster Zahnarzt in Deutschland führt Dr. Matthias Eigenbrodt seine Praxis nach den Prinzipien der sogenannten Gemeinwohl-Ökonomie. Was das genau bedeutet und einige Beispiele aus unserem Praxisalltag finden sich hier.

Was ist Gemeinwohl-Ökonomie?

»Gemeinwohl-Ökonomie« bezeichnet ein alternatives Wirtschaftsmodell, das auf gemeinwohlfördernden Werten aufgebaut ist. Auf wirtschaftlicher Ebene ist sie eine lebbare, konkret umsetzbare Alternative für Unternehmen verschiedener Größen und Rechtsformen.

Erfolg wird daran gemessen, wie viel ein Unternehmen zum Wohl der Allgemeinheit beiträgt. Konkret: Wie nachhaltig, fair, solidarisch, gerecht und partizipativ arbeitet die Praxis?

Die Zahnarztpraxis am Kreuzberg möchte Vorreiter sein in einem demokratischen, partizipativen und ergebnisoffenen Prozess ein Wirtschaftssystem zu etablieren, in dem das Wohl von Mensch und Umwelt zum wichtigen Ziel des Wirtschaftens wird.

Umsetzung in der Praxis

Das mag sich alles noch etwas schwammig anhören, deshalb hier ein paar Beispiele, was das für uns als Praxis konkret bedeutet.
 

Ethisches Beschaffungsmanagement

Strom: 100 % Ökostrom von www.naturstrom.de (seit August 2016).

Amalgam: 100 % amalgamfreie Praxis. Alle Zahnärzte in Deutschland verwenden jährlich zusammen etwa 4 Tonnen Amalgam (Stand 2015). Da dieses Material zur Hälfte aus Quecksilber besteht, rund zwei Tonnen Quecksilber pro Jahr. Schon seit 2003 wird bei uns kein Amalgam als Füllungsmaterial verwendet. 

Geschirrspüler: Im Oktober 2016 wurde auf Wunsch der Mitarbeiter ein Bosch-Geschirrspüler (A++ / 258 KWh / Jahr, Super Silence) angeschafft (nicht bei Amazon). Waschmaschine und Trockner haben auch die EEK A++ und sind seit Praxisgründung (2010) in Betrieb.

Müllvermeidung: Wir benutzen zur Müllvermeidung so wenig Einmalartikel wie möglich und hygienisch nötig. Das betrifft Abdrucklöffel, Spiegel, Sonden u. a. Plastik-Klemmbretter für Anamnesebögen wurden durch Holz ersetzt. Die Umstellung auf digitale Lösungen zur Papiervermeidung ist in vollem Gange. 

Röntgen: 100 % digitales Röntgen (schon seit 2003). Vermeidung von Chemikalien mit nachhaltigem Mehrwert für die Umwelt und Reduktion von Strahlung mit Mehrwert für die Gesundheit unserer PatientInnen.
 

Arbeitsplatzqualität und Gleichstellung

Faire Beschäftigungs- und Entgeltpolitik: Wir sind keine Personal- oder Zeitarbeitsfirma. Unsere zehn MitarbeiterInnen haben alle sozialversicherungspflichtige Anstellungen. Unsere Mitarbeiter bekommen 20-25 % mehr als die Vergütungstarifverträge von Hessen, Hamburg und Saarland. Für Männer und Frauen wird der gleiche Lohn gezahlt.

Transparenz: Umsatzdaten werden den Mitarbeitern zweimal jährlich mitgeteilt. Betriebliche Veränderungen werden im Team besprochen und diskutiert.

Miteigentum: MitarbeiterInnen können GesellschafterInnen der GbR werden, wenn sie am Verlustrisiko beteiligt werden wollen.
 

Gerechte Verteilung des Einkommens

Einkommen: Die Spreizung zwischen dem geringsten und höchsten Einkommen im Unternehmen ist 1:3 (ohne Azubis). 

Transparenz: Die Gehälter werden durch den zahnjob.de/gehaltsrechner plus Betriebszugehörigkeit festgelegt.
 

Soziale Gestaltung der Produkte und Dienstleistungen

Zugang für Benachteiligte: Benachteiligte Gruppen (z.B. Geflüchtete) begegnen wir durch unser internationales Team auf Augenhöhe. Unser syrischer Kollege baut Sprach- und Kulturbarrieren ab. StudentInnen und Menschen mit geringem Einkommen bekommen 25% Rabatt auf verschiedene Verlangensleistungen (z. B. Professionelle Zahnreinigung, Zahnersatz etc.)

Der ausführliche Bericht

Hier präsentieren wir unseren aktuellen Gemeinwohl-Bericht als PDF zum Download und auf issuu.com zum Durchblättern.

Dieser ist das Ergebnis der Peer-Evaluierung mit abschliessendem Gemeinwohl-Audit. Dieser Prozess hat von Januar bis Juni 2018 gedauert. Alle Bereiche der GWÖ-Matrix wurden dabei durchleuchtet und bewertet.

Engagement-Berichte

Nachrichten zum Thema Gemeinwohl-Ökonomie rund um unsere Praxis.

„Ich würde es genauso wieder tun!“

Wie man auf so eine verrückte Idee kommen kann, seine Praxis nach Gemeinwohlkriterien auszurichten, und welche Vor- und Nachteile die Symbiose aus Wirtschaft und Ethik mit sich bringt, beantwortet Dr. Matthias Eigenbrodt im Interview.

Dr. Matthias Eigenbrodt, Zahnarzt & MSc. International Health, ist niedergelassen in Berlin-Kreuzberg. ©Klaus Fehling

Was hat Sie motiviert, für Ihre Praxis eine GWÖ (Gemeinwohl-Ökonomie)-Bilanz zu erstellen? 

Dr. Matthias Eigenbrodt: Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wünschen sich 89 Prozent der Menschen in Deutschland wie ich ein neues Wirtschaftssystem. Die GWÖ ist ein Modell, das ich persönlich für das durchdachteste und sinnvollste Konzept hierzu halte. 

Am meisten motiviert hat mich aber diese Aussage aus dem Neuen Testament: „Ich sage euch: Verschafft euch Freunde mit dem Mammon, dem Geld, das zur Ungerechtigkeit verleitet.“ Dies ist an mich als Unternehmer gerichtet: Handle so, dass der Gewinn nicht nur ein paar Wenigen zugutekommt, sondern dass er dem Wohl aller dient.

Was bedeutet es konkret für die Praxis, wenn man sich einer GWÖ-Untersuchung unterzieht?

Die GWÖ-Bilanzierung bedeutet nicht nur relativ viel Arbeit, sondern auch eine Standortbestimmung. Wo stehen wir als Praxis und als Team? Wo gibt es noch Luft nach oben? Meine Überzeugung ist, dass die GWÖ-Ausrichtung in einer Zahnarztpraxis uns allen helfen könnte, das manchmal schlechte Image eines monetär motivierten Zahnarztes positiv zu verändern.

Was sind die Vorteile der Umstellung? Die Nachteile? 

Vorteil: Im Zuge der Umstellung habe ich – im Sinne der GWÖ – meine Arbeitszeit auf eine 4-Tage-Woche reduziert. Das war aber nur durch die Einstellung einer Kollegin möglich. Die gewonnene Zeit für Familie, Freunde und Hobbys möchte ich nicht mehr missen. Mehr Kraft und Motivation für die Arbeit ist auch eine Folge der Umstellung.

Der Nachteil: Man braucht Zeit, um für die Bilanz die Praxisstruktur zu durchleuchten. Zudem: Weniger arbeiten und seine Mitarbeiter besser bezahlen, bedeutet weniger Gewinn. Ob das ein Nachteil ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. 

Wie wirkt sich die Umstellung betriebswirtschaftlich auf die Praxis aus?

Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen, nicht der Profit. Das ist leichter gesagt als getan. Auch ich stehe, wie alle Zahnärzte, unter dem Druck von Umsatzzielen und Minutenpreisen. In diesem Umfeld Leistungen zu erbringen wie etwa Beratungen, die nicht entsprechend honoriert werden, oder den Mitarbeitern echte Wertschätzung zu geben, bleibt eine Herausforderung. Jedes Mal, wenn ich unseren Quartalsbericht und Controlling-Report bekomme, moniert mein Steuerberater, dass wir zehn Prozent mehr Personalkosten haben als vergleichbare Praxen in Deutschland. In der Tat sind Löhne die höchsten Abweichungen nach oben im Benchmark. Das sind mir meine Mitarbeiter aber auch wert. Aber die Gefahr bleibt, dass man nicht mehr alle Rechnungen bezahlen kann, wenn die Kosten ausufern.

Welchen Anteil hat das Praxisteam an der Umstellung? 

Der Anteil des Praxisteams ist nicht zu unterschätzen. Meine Mitarbeiterinnen haben immer wieder Ideen für einen positiven Veränderungsprozess. Es macht Spaß, mit meinem Team zu überlegen, wie wir noch besser werden können. Das tun wir nicht nur in wöchentlichen Teamsitzungen, sondern auch an Klausur-Wochenenden, wo wir uns mal mehr Zeit nehmen.

Aus heutiger Sicht würde ich ... 

… es genauso wieder machen. 

Die Fragen stellte Stefan Grande.

Quelle: ZM-Online.de